Die Rückkehr der Systemfrage

Anfang des Jahres sorgte sich ein Leitartikler der FAZ, dass die Besitzer von DAX-Aktien im Boomjahr um 22 Prozent reicher geworden sind, während die abhängig Beschäftigten Reallohnverluste verbuchen mussten und die Inflationsrate auf den höchsten Stand seit 13 Jahren kletterte. „Manchem wird erst jetzt bewusst“, so der Leitartikler der FAZ, “wie sehr die Konkurrenz des Kommunismus…auch den Kapitalismus gebändigt hat…Deshalb ist es gut, dass der Bundespräsident die Frage aufwarf, wie viel Ungleichheit unserer Gesellschaft zuträglich ist, um ihre Vitalität zu erhalten.“ Und als hätte er das Schweigen der Linken längst registriert, forderte der FAZ-Kommentator: „Bevor andere die Systemfrage stellen, sollten es die Eliten tun.“[1] Die reagierten schneller als gedacht. Auf dem Wirtschaftsforum in Davos forderte Bill Gates einen „kreativen Kapitalismus“, der sich nicht nur am Profit orientiere.[2] „Wenn es so weiter geht“, zitiert das manager magazin den Bundesfinanzminister, „dann könnte es auch hierzulande zu Tumulten und brennenden Autos kommen wie in den französischen Vorstädten.“ Auch die durch Zumwinkel losgetretene Debatte um die Moral der Reichen ängstigte den Finanzminister, weil sie „die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft in immer weiteren Teilen unserer Gesellschaft“ gefährde.[3] Ein schleichendes Unbehagen macht sich ausgerechnet auch bei denen breit, die die neoliberale Modernisierung nicht ohne Überzeugungskraft vorangebracht haben. Sie beklagen die Raffgier der Manager und empören sich über deren mangelnde Steuermoral. So klagt Heinrich Weiss, einst Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie: „Wenn in einigen Konzernen die Aufsichtsräte bei der Vorstandsvergütung nicht total versagt hätten, dann hätten wir die Linken jetzt nicht in den Landtagen sitzen.“ [4] Unternehmer sind irritiert, wenn multinationale Konzerne trotz Milliardengewinnen Zehntausende von Arbeitsplätzen abbauen und stellen fest, eine Firma sei doch „nicht nur ein Ort, an dem Mehrwert erzeugt und Geld verdient wird. Für viele Menschen war - und ist – das Unternehmen immer auch ein Stück Heimat, ein Teil ihrer Identität.“[5]

….wenn die da oben nicht mehr können

Natürlich verwundert die Naivität, mit der sich einige Angehörige der politischen und ökonomischen Elite über die Ergebnisse ihrer Modernisierungspolitik entsetzen. Und natürlich darf man bezweifeln, dass ihre Systemfrage den Kapitalismus in Frage stellt. Doch darauf kommt es weniger an, als auf die öffentliche Wirkung solcher Eingeständnisse. Politische Krisen, so kann man bei Lenin lesen, entstehen nicht nur, wenn die da unten nicht mehr wollen, sondern die da oben auch nicht mehr können. Nichts erschüttert die Hegemonie einer herrschenden Klasse heute mehr, als das Eingeständnis der Ratlosigkeit und des Zweifels. Denn das ist das Besondere in bürgerlichen Demokratien, dass sich die Herrschenden nicht nur auf ihre materielle Macht stützen, sondern auf die Hegemonie ihrer Ideen und Leitbilder. Der Eindruck, dass sie die Dinge nicht mehr im Griff haben, gefährdet ihre Herrschaft stärker, als jede soziale Ungerechtigkeit und der Verlust der geistigen Hegemonie ist schon immer in der neueren Geschichte mit dem Verlust an Macht bestraft worden.

Zivilgesellschaft oder Barbarei

Allerdings mündet der bürgerliche Hegemonieverlust nicht automatisch in soziale Umwälzungen. Zunächst einmal mündet er in Barbarei. Entweder in die Barbarei eines autoritären Regimes oder in die Barbarei einer sich allmählich auflösenden Zivilgesellschaft. Letzteres ist allenthalben bereits zu beobachten: Korruption und Steuerbetrug sind nämlich ebenso wenig eine zwanghafte Erscheinung kapitalistischer Herrschaft, wie das Versagen der Bankenaufsicht oder der Marktregeln. Es sind Defekte der zivilgesellschaftlichen Regulierung. Denn der Kapitalismus ist nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein politisches System, und das verlangt von den beherrschten, wie auch von den herrschenden Klassen die Einhaltung bestimmter Spielregeln. Je mehr die Verletzung der juristischen und moralischen Spielregeln zunimmt, desto schneller schwindet die Akzeptanz der bürgerlichen Demokratie sowie ihrer staatlichen Institutionen, was zunächst weniger den Kapitalismus in Frage stellt, als seine politische Regulierung.

Wenn die bürgerliche Demokratie und ihre Institutionen an Legitimation verlieren, gefährdet dies nicht in erster Linie die kapitalistische Ökonomie, sondern ihre Zähmung durch Recht und Gesetz. Auf beiden Polen der Gesellschaft wächst die Neigung zur Umgehung der Gesetze, zum individuellen Machtmissbrauch und der Zerstörung des sozialen Friedens. Vor allem die kommunistische Linke hat in ihrer Geschichte häufig keinen Unterschied zwischen der bürgerlichen Verfassung der Gesellschaft und ihrer kapitalistischen gemacht, so dass sie die Schwächung der bürgerlichen Ordnung für einen Übergang zum Sozialismus hielt. Tatsächlich aber mündete die Zerstörung der bürgerlichen Zivilgesellschaft fast immer in Barbarei. Das gilt auch für die Zerstörung des sozialen Friedens, der ja nicht nur den Frieden zwischen Arbeit und Kapital meint, sondern vor allem das friedliche Miteinander im Alltag, die öffentliche Sicherheit auf den Straßen und auch zwischen unterschiedlichen Religionen oder ethnischen Bevölkerungsgruppen. Auch soziale Eruptionen in gesellschaftlichen Ghettos sind zunächst einmal Barbarei. Denn bis heute gibt es keinen Hinweis, dass die brennenden Pariser Vorstädte oder die Gewaltexzesse anderer Metropolen zu einer Stärkung der Kommunisten oder Sozialisten geführt hätten. Eher ist das Gegenteil der Fall.

Keine Systemfrage ohne Systemkrise

Was die herrschenden Eliten von einer Systemfrage sprechen lässt, ist zunächst nichts anderes als eine Systemkrise, die in unterschiedliche Richtungen aufgelöst werden kann. Entweder in eine ideologische Neubegründung des Bestehenden oder in die Richtung seiner Überwindung. Die ökonomischen und politischen Eliten fürchten, dass all jene Werte und Normen zerstört werden könnten, die die soziale Marktwirtschaft begründen halfen und appellieren dementsprechend an die Moral der Herrschenden. Sie begreifen nicht, dass an der Krise weniger die schwindende kapitalistische Moral Schuld ist, als die veränderte kapitalistische Ökonomie. Das zu betonen, wird der Linken allerdings wenig helfen, so lange die Mehrheit der Bevölkerung die kapitalistische Ökonomie weder versteht, noch in Frage stellt. Die Menschen entwickeln zwar ein wachsendes Unbehagen und das Bedürfnis nach neuen Sicherheiten, sehen aber nicht im Sozialismus das Ziel ihrer Bedürfnisse. Was sie jedoch sehen ist, dass es so nicht weiter geht, dass es eines grundlegenden Wandels bedarf und die alten Rezepte versagt haben. Und weil sie nach dem Scheitern des realen Sozialismus auch im Sozialismus ein altes Rezept sehen, wird es nicht helfen, ihn nur demokratisch zu nennen.

Über Visionen und Utopien

Das Wichtigste scheint momentan, den Wandel an sich zu propagieren, einen Neubeginn zu fordern und diesen mit anerkannten und konkreten Visionen zu verbinden: Mit sozialer Gerechtigkeit, Sicherheit vor dem sozialen Absturz, einer besseren Zukunft für die Kinder, einer guten und sicheren Arbeit, aber auch mit einer friedlichen und ökologisch beherrschbaren Zukunft.  Das scheint selbstverständlich, ist es aber nicht. Gerade Marxisten tun sich schwer mit dem Begriff der Visionen, seit ihre Stammväter den utopischen durch den wissenschaftlichen Sozialismus ersetzten. Doch die sozialistischen Erfolge wurden in der politischen Realität mit Alltagsvisionen errungen. Mit Bebels „Zukunftsstaat“, mit Lenins Parole  „Frieden, Brot und Land“ oder auch mit dem „mehr Demokratie wagen“ von Willy Brandt. Utopien oder Visionen sind zwar unscharfe Wunschbilder, aber sowohl das Bestehende, als auch seine Alternative gründen sich auf diese so genannten „großen Erzählungen“, auf gesellschaftliche Versprechungen, auf die die Menschen ihre Hoffnungen gründen, sich in die Gemeinschaft einordnen und in die „großen Erzählungen“ ihre eigenen Lebensentwürfe einschreiben.

Mit dem Ende des realen Sozialismus verkündete der amerikanische Politologe Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“[6] und andere postmoderne Wissenschaftler das „Ende der großen Erzmählungen“. Aber offenbar können die Menschen nicht ohne diese großen Erzmählungen und Sinngebungen leben, ohne entweder ihre Bindung an die Gesellschaft zu verlieren oder diese in der Religion zu suchen. Das mag auch der eigentliche Grund sein, weshalb die parlamentarische Demokratie Wähler und die Parteien Mitglieder verlieren. Sie wecken keine Hoffnungen mehr, nicht nur weil die Politik schlecht ist, sondern weil sie auf der Stelle tritt, auf keine Zukunft mehr verweisen kann und sich im Bestehenden eingerichtet hat. Man kann den herrschenden Eliten nicht absprechen, dass sie dieses Vakuum erkannt haben und erhöhte Anstrengungen zur Vermittlung von Sinngebungen unternehmen. Das beste und erfolgreichste Beispiel dafür war die Kampagne „Du bist Deutschland“, ein weiteres die Vorwahlkampagne des demokratischen Senators Obama, die sich auf wenig mehr als die Begriffe Hoffnung, Chance und Wechsel gründet und trotzdem wirkliche Begeisterung entfachen konnte. Der Erfolg dieser Kampagnen zeigt, wie groß das Bedürfnis der Menschen nach Identifikation mit einer gesellschaftlichen Vision ist und wie aussichtslos die visionslose Sachorientierung. Denn keine Wirklichkeit kann so zufrieden stellend und keine Politik so gut sein, dass es nicht eines gewissen Maßes an Zukunftsvisionen bedarf, um die Gegenwart erträglich zu finden. Und das gilt vor allem in schlechten Zeiten, in denen die Verhältnisse selbst nach Visionen verlangen.

Über Kommunikationsprobleme und politische Kultur

Das überraschende Nachdenken der herrschenden Eliten über die Systemfrage hat hierzulande einen sehr aktuellen und konkreten Anlass: Die Wahlerfolge der Linken, die ständig schlechteren Umfragewerte zur Akzeptanz der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sowie den Umbruch in der Parteienlandschaft. Nicht ganz ohne Grund geht die Befürchtung um, dass die Legitimations- und Systemkrise tatsächlich zu einer laut gestellten Systemfrage wird. Links ahnt man dies nicht nur, man ist auch überzeugt, die Frage beantworten zu können. Die Frage ist nur wie. Denn auf der Linken neigt man schon immer zu zwei entgegen gesetzten Extremen. Entweder wird abstrakt der Sozialismus propagiert oder man flüchtet sich in die „konkreten Alternativen“. Doch einerseits ist der Sozialismus heute für zu wenige Menschen noch eine Vision, selbst wenn man ihn mit angenehmen Attributen wie demokratisch oder emanzipatorisch versieht und andererseits wurde noch niemand für sozialistische Politik gewonnen, weil diese Politik ein durchgerechnetes Steuer- oder Rentenkonzept vorweisen konnte.

Wobei nichts dagegen spricht, den Begriff Sozialismus aus der Schmuddelecke herauszuholen oder konkrete Konzepte für die Lösung des einen oder anderen Problems auszuarbeiten. Aber das Wichtigste ist, sich ins Altersbewusstsein einzugraben, Menschen zu erreichen, die weder über Begriffe streiten mögen, noch Parteiprogramme oder Konzepte lesen, sondern auf Botschaften hören und ein Gespür für neue Töne haben. Das setzt viel Spracharbeit und Alltagsnähe voraus aber vor allem eine politische Kultur, die sich radikal vom bestehenden Politikbetrieb unterscheidet und bereits in der Art und Weise „wie“ man Politik macht, zu erkennen gibt, „was“ man anders machen will. Politik braucht Symbole und Gesten, wie jede, auch die alltägliche Kommunikation, von Symbolen und Gesten und nicht nur von der formalen Sprache lebt. Es lohnt daher genauer hinzuschauen und zuzuhören, mit welchen Symbolen und Gesten die in Verruf geratene Politik ihre visions- und zukunftslosen Botschaften verkauft. Denn so sehr man sich bei der Beantwortung der Systemfrage auf die Inhalte konzentrieren muss, so wenig kann man darauf vertrauen, dass sie verstanden werden, wenn sie sich nicht auch in der Form unterscheiden. Zwar entfaltet sich linke Politik nicht in einem neuen, sondern in einem vorhandenen politischen Raum, weil sie sich in Parteien organisieren muss, die vorhandenen politischen Institutionen nutzen muss und den dort wartenden Betrieb ebenso zu meistern hat, wie die vorhandene Medienwelt. Aber sie muss in den vorhandenen Organisationsformen und Institutionen auch einen anderen Stil pflegen, um als Trägerin neuer Inhalte akzeptiert zu werden. Wahrscheinlich bekommt dann nicht nur der Begriff Sozialismus einen neuen Klang, sondern manche beginnen auch unsere Programme und alternativen Konzepte zu lesen.

Harald Werner 13.03.08

 

 


[1] Stefan Dietrich, Leitartikel der FAZ vom 2.1.08

[2] manager magazin, 03/08, Zerstört der Superkapitalismus die Demokratie?, S.114

[3] ebenda

[4] ebenda

[5] Dieter Heuskel, Senior Partner und Chairmann der Boston Consulting Group, manager magazin a.a.O.


[angelegt/ aktualisiert am  13.03.2008]