Harald Werner - Alles was links ist
 

Die permanente ursprüngliche Akkumulation

Viele im armen Süden wirkenden Prozesse erinnern an die bluttriefende Geburtsgeschichte des europäischen Kapitalismus, die niemand besser und zugleich brutaler beschrieben hat, als Marx im 24. Kapitel des Kapitals.[1] Spätere Veröffentlichungen, vor allem durch Rosa Luxemburg,[2] zeigen wie sich dieser Geburtsprozess immer dann wiederholt, wenn sich das Kapital durch gewaltsame Eroberung neue Akkumulationssphären erschließt. Wer den Imperialismus, und im aktuellen Fall die Durchkapitalisierung der südlichen Hemisphäre, nicht als ökonomischen Prozess beschreibt, kann ihn überhaupt nicht beschreiben. Im Prinzip folgt nämlich die neoliberale Globalisierung der gleichen Methodik, wie die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals zu Zeiten von Marx und der folgenden Kolonialisierung. Es ging um den Raub von Land und materielle Ressourcen, vor allem aber um die Durchsetzung von Lohnarbeit. Denn ohne die vom Land vertriebene Bevölkerung hätte sich das englische Kapital nicht auf immer höherer Stufe akkumulieren können. Die durch die „Bauernbefreiung“ geschaffene Überbevölkerung wurde aus nackter Not, vor allem aber durch Gewalt, in die sich explosiv ausbreitenden Manufakturen getrieben oder als Arbeitssklaven in die Kolonien verbannt. Und auch heute wurde die Ausbeutung des globalen Südens nicht durch den Konsumhunger der Bevölkerung des reichen Nordens vorangetrieben, sondern durch den Hunger des Kapitals nach Extraprofiten.

 

Die neoliberale Eroberung des Südens zielte auch nicht allein auf die Aneignung von Bodenschätzen, sondern auf die Ausbeutung des durch die Vernichtung der kleinbäuerlichen Lebensweise entstandenen Bevölkerungsüberschusses. Denn alles was der arme Süden zu liefern hatte, Rohstoffe, Naturprodukte oder Energieträger, verlangte nach ausbeutbarer Lohnarbeit. Viele Globalisierungskritiker konzentrieren sich auf die stoffliche Ausbeutung des Südens und die dabei entstehenden ökologischen Probleme, vergessen aber, wer eigentlich ausgebeutet wird, nämlich die ihrer Lebensweise beraubte und zur Lohnarbeit gezwungene Überbevölkerung. Wobei es aktuell immer weniger um Lohnarbeit zur Ausbeutung von Rohstoffen oder dem Export von Naturprodukten geht, sondern um Industrieproduktion und ausgelagerte Dienstleistungen. Und anders als zu Zeiten der Kolonialisierung, entstand auf diese Weise nicht nur eine neue Arbeiterklasse, sondern auch eine heimische Bourgeoisie, die eng mit dem international agierenden Finanzkapital verbunden ist. Hier versagt denn auch der viel zitierte Begriff des Nord-Süd-Konflikts. Der Süden wird nicht vor allem vom Norden ausgebeutet, sondern die Arbeiterklassen beider Hemisphären werden gemeinsam vom international agierenden Kapital geschröpft.

 

In gewisser Hinsicht, hat die in den vergangenen Jahrzehnten praktizierte ursprüngliche Akkumulation ihren Höhepunkt erreicht und bereits eine neue Weltordnung geschaffen, die sich einerseits in den gewaltigen, im globalen Süden angehäuften  Finanzvermögen widerspiegelt und andererseits im globalen Wachstum der Arbeiterklassen ausdrückt. Insgesamt hat sich zwischen 1980 und 2017 „die globale Arbeiterklasse von 1,9 Milliarden Menschen (bei seinerzeit 4,4 Milliarden Menschen auf der Erde) auf 3,5 Milliarden (von nun 7,4 Milliarden) Menschen annähernd verdoppelt.[3] Während im reichen Norden die Zahl der Lohnarbeiter stagniert oder gar sinkt, verzeichnet der Süden enorme Wachstumsraten. Und diese Klasse konzentriert sich In den Mega-Cities des Südens, die wie Delhi, Dhaka oder Lagos, über 10 Millionen Einwohner zählen und längst schon die früheren Weltmetropolen in den USAS oder Europa überholt haben.

 

Imperiale Lebensweise?

Wenn Brand und Wissen von einer imperialen Lebensweise in der nördlichen Hemisphäre sprechen, dann geht es ihnen nicht um bestimmte Klassen oder Schichten, sondern um eine allgemeine Existenzform, die sich in ihrer Veröffentlichung immer wieder in einem undifferenzierten „Wir“ ausdrückt. Tatsächlich aber sind die kapitalistischen Hauptländer des Nordens von einer zunehmenden Differenzierung und zunehmenden sozialen Spaltung zwischen den Gewinnern und den Verlierern der neoliberalen Modernisierung gezeichnet.  So stellt Dörre in seiner Kritik am Lebensweisekonzept fest: „Das einigermaßen rasche Wachstum in den großen und kleinen Schwellenländern, das dort die Mittelklassen expandieren lässt, geht zu lasten von beherrschten Klassen in den alten Metropolen.“[4] Das heißt, dass die Hungerlöhne in der südlichen Hemisphäre zwar im Norden bestimmte Konsumartikel verbilligen, aber keinesfalls die gleichzeitige Stagnation der Löhne und die Explosion der Wohnungsmieten kompensieren können. Im Gegenteil: Der stürmische Aufstieg südlicher Schwellenländer hat im Norden den Stellenabbau vorangetrieben, die Lohnentwicklung gebremst und zahlreiche Armutszonen geschaffen. Kann noch von einer imperialen Lebensweise im an sich reichen Deutschland die Rede sein, wenn die Lohnquote von 72,4 Prozent im Jahr 2007 auf 68,5 Prozent im vergangenen Jahr zurückging? Seit der Wiedervereinigung ist es zu einer gewaltigen Umverteilung von 1,67 Milliarden Euro zu Lasten der abhängig Beschäftigten gekommen.[5]

 

Wenn denn überhaupt der Begriff einer imperialen Lebensweise Sinn macht, dann nur als globale Erscheinung, die sich auch in der südlichen Hemisphäre ausbreitet. Das drückt nichts besser aus, als der jährliche Forbes-Bericht zur globalen Entwicklung der Millionärs- und Reichtumsquote. Seit 1996 hat sich die Population der Dollar-Milliardäre inflationsbereinigt fast verfünffacht. „Einer der Gründe ist der drastische Anstieg der Summen, die Superreiche aus den Schwellenländern ihr Eigen nennen. Im Jahr 2001 gab es 103 Milliardäre in Schwellenländern. 2014 waren es 705.“ Das heißt, dass 40 Prozent der weltweit existierenden Milliardäre in den Schwellenländern wohnen.[6] Wobei es nicht allein um Milliardäre geht, die stets nur die Spitze des Reichtums darstellen. Entscheidender ist, dass sich in den betroffenen Ländern auch eine quasi imperiale Lebensweise entwickelt hat, die Millionen Besserverdienenden zu gute kommt.

 

Die Attraktivität des Lebensweisekonzepts und seine Illusionen

Die Kritik „unserer“ Lebensweise fällt schon deshalb auf fruchtbaren Boden weil sie scheinbare Handlungsalternativen anbietet. Denn während der Einzelne relativ hilflos der herrschenden Produktionsweise ausgesetzt ist, ja sie als quasi u begreift, ist die private Lebensweise durchaus veränderbar. Man kann ökologisch bewusst einkaufen, Müll vermeiden, Energie sparen und vom Auto auf das Fahrrad umsteigen. Auch wenn die Wenigsten glauben, dass damit die Welt zu retten ist, vermitteln diese Alternativen doch das Gefühl einer gewissen Handlungsfähigkeit, die in ihrer Summe zu einer alternativen Lebensweise führen könnte. Lessenich hält das nicht für ausgeschlossen und zitiert, wenn auch ironisch gedacht, dass sogar US-Hedgefonds wie Blackrock und Axa, bei der Klimarettung ganz vorne sein wollen.[7] Überhaupt hat vieles, was an der grünen oder sozialethischen Umsteuerungsthese richtig ist, den fatalen Effekt, vergessen zu machen, dass die Akkumulation des Kapitals anpassungsfähig genug ist, um auch damit fertig zu werden.

Harald Werner 6.8.2018

 

 


[1] MEW Band 23, S. 741 ff

[2] Rosa Luxemburg, Die Akkumulatio9n des Kapitals, Berlin 1913, 359 ff

[3] Ingar Solty, Solidarität und Heimat, Blätter für deutsche und internationale Politik 8`18, S.98

[4] a.o.O. S.68

[5] Memorandum 2018, S.89

[6] https://www.welt.de/wirtschaft/article152414213/Das-Maerchen-von-den-zwielichtigen-Milliardaeren.html

[7] a.o.O. S. 111


[angelegt/ aktualisiert am  05.08.2018]