Harald Werner - Alles was links ist
 

Die eigentliche Krise der Parteien

Seit mindestens zwei Jahrzehnten schrumpfen europaweit die Mitgliederzahlen der großen Parteien, wenn sie nicht gar gänzlich von der Bildfläche verschwinden. Am dramatischsten hat es die Sozialdemokratie getroffen, die nur noch in der BRD und in Schweden in der Regierung sitzt. Die SPD, die noch in den 1960er Jahren mit mehr als einer Million Mitgliedern auftrumpfen konnte, halbierte sich und rutschte im vergangenen Jahr, nach der Bildung der Großen Koalition, auf 463.723 Parteimitglieder ab. Selbst die Union, die in den 1960er Jahren ihre Mitgliederzahl noch um 128 Prozent steigern konnte, ist heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Interessant ist, dass das europaweite Schrumpfen der großen Volksparteien vor allem die weltanschaulichen Parteien betrifft und politische Strömungen, die sich weder links noch rechts verorten, bei den Wahlen erhebliche Gewinne verbuchen.

 

Überwiegend wird diese Entwicklung auf den zunehmenden Populismus zurückgeführt, der zwar überwiegend der Rechten zugutekommt, sich vor allem aber als Alternative zu den etablierten Parteien präsentiert. In der Literatur wird dies als Krise der Repräsentanz interpretiert, also als Legitimationsverlust der etablierten politischen Apparate, angefangen von den Parlamenten bis zur Elite in den Regierungen. Dementsprechend bemüht man sich dort um bessere Öffentlichkeitsarbeit, sucht die Nähe zu den Bürger*innen und liebäugelt zuweilen sogar mit der Entwicklung plebiszitärer Instrumente. Demokratie soll erlebbarer und direkter werden, was freilich einem Demokratieverständnis entspricht, bei dem für den Vertrauensverlust nicht die tatsächliche Politik, sondern nur ihre Präsentation verantwortlich ist. Noch radikaler ist man beim Nachdenken über Formen direkter Demokratie, wie etwas durch Volksentscheide, Bürgerhaushalte und dergleichen mehr. Abgesehen davon, dass im Mutterland der direkten Demokratie, nämlich in der Schweiz, Volksentscheide in der Regel das Bestehende festigen, liegt dem auch ein recht enges Politikverständnis zugrunde. Demokratie verliert nämlich ihren ursprünglichen Sinn, wenn sich das Volk, wie bei einer Speisekarte, auf eine Wahl innerhalb des bestehenden Angebots beschränkt.

 

So lange es in den bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften auf der einen Seite um die Weiterentwicklung der kapitalistischen Akkumulation und auf der anderen um deren Überwindung durch den Sozialismus ging, gruppierte sich auch die Parteien um diesen Antagonismus. Jeder Programmpunkt und jede politische Maßnahme wurde von den Menschen als erstes in das Links-Rechts-Schema eingeordnet, bevor es konkret wurde.  Doch mit dem Niedergang des Realsozialismus und dem damit verblassenden Unterscheidungsmerkmal zwischen linker und rechter Politik wurden die großen Richtungsparteien verwechselbar. Am stärksten betroffen von der diffus gewordenen Identität waren natürlich die kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien, weil sie eine Utopie verloren hatten. Was übrig blieb, waren Parteien, die sich in ihren Programmen nur noch durch einen mehr oder weniger sozialstaatlich geprägten Kapitalismus unterschieden.

 

Von Gorbatschow ist der Spruch überliefert „wir werden euch etwas Fürchterliches tun – wir werden euch den Feind nehmen“. Dass der Verlust des Feindes vor allem den linken Parteien schaden würde, hat er dabei sicher nicht erwartet. Selbst wer den amerikanischen Politikwissenschaftlers Fukuyama damals nicht gelesen hatte, konnte sich nach dem Niedergang des Sozialismus nicht der Plausibilität seiner Aussage entziehen, dass mit dem Ende des ersten sozialistischen Versuchs das „Ende der Geschichte“ erreicht war. Folglich ging es in der grundlegenden Politik der Parteien nicht mehr um antagonistische Gesellschaftsmodelle, sondern nur noch um verschiedene kapitalistische Entwicklungswege. Der Niedergang der europäischen Weltanschauungsparteien traf zwar hauptsächlich das linke Parteienspektrum, ging aber auch an den christdemokratischen Parteien nicht spurlos vorbei, weil ihnen zwar keine Utopie, aber der nicht minder identitätsstiftende Antikommunismus verloren gegangen war.

 

Die Selbstentmachtung der Politik

Was den Niedergang der großen Volksparteien am meisten beschleunigte, war aber nicht der Verlust an programmatischem Profil, sondern der selbstverschuldete Verlust an Handlungsfähigkeit. Im Zuge der neoliberalen Modernisierung traten die führenden Parteien nach und nach ihre wichtigsten Instrumente an den Markt ab, nämlich die Gestaltungsmacht über den öffentlichen Sektor, die Souveränität der Geldpolitik und die Kontrolle der Finanzmärkte. In der Folge von Deregulierung und Marktradikalität büßten sie nach und nach die Instrumente ihrer politischen Handlungsfähigkeit ein. Wenn man Demokratie als eine Gesellschaft versteht, in der möglichst viele möglichst viele Möglichkeiten haben, dann haben sowohl die Regierenden als auch die Regierten mit der neoliberalen Modernisierung einen großen Teil ihrer Möglichkeiten verloren. Wobei sich die BRD an die Spitze dieser angeblichen Modernisierung stellte. Denn vor allem Deutschland sorgte bei den Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht dafür, dass die Haushaltssouveränität der Mitgliedsstaaten eingeschränkt wurde, wichtige politische Entscheidungen an die EU-Behörden abgetreten wurden und die Privatisierung von Staatseigentum zu einem der wichtigsten Ziele erhoben wurde.

 

Die wenigsten Menschen in der Europäischen Union verstanden die komplizierten Arbeitsabläufe und Bürokratien der Union, weshalb sie auch kaum verstehen konnten, weshalb die von ihnen gewählten Regierungen nicht mehr ihre Erwartungen erfüllen konnten. Die führenden Parteien wiederum konnten kaum ihre eingeschränkte Handlungsfähigkeit thematisieren, ohne damit das Europäische Projekt zu delegitimieren. Am wenigsten konnten das die deutschen Regierungsparteien, weil vor allem die Unternehmen der BRD, hauptsächlich aber das Finanzkapital von der EU-Konstruktion profitierten. In das größte Dilemma aber geriet die SPD, weil Schröders Agenda 2010 die europäische Führungsrolle für die Deregulierung der Finanzmärkte übernahm, die Privatisierung des öffentlichen Sektors wie kein anderes Land vorantrieb und den Abbau von Arbeitsrechten auf die Spitze trieb. Die SPD mag sich heute noch so radikal von Hartz IV distanzieren, es wird ihr nicht helfen, weil die Hartz-Gesetze nur das I-Tüpfelchen der so genannten „Reformen am Arbeitsmarkt“ waren, mit denen der Niedriglohnsektor extrem ausgeweitet und die Armut trotz Arbeit zur Massenerscheinung wurde.

 

Letztlich mögen sich SPD und Union noch so interessante Instrumente ausdenken, wie etwa Mitgliederbefragungen, Gesprächsoffensiven oder die Demokratisierung innerparteilicher Entscheidungen – ihr größtes Problem ist nämlich kein Mangel an demokratischer Kultur, sondern dass sie die wichtigsten Instrumente einer Demokratie an den Markt abgetreten haben, nämlich an die von Merkel erfundene „marktkonforme Demokratie“.

Harald Werner, 7.1.2019

 


[angelegt/ aktualisiert am  07.01.2019]