Harald Werner - Alles was links ist
 

Wie die Digitalisierung das Soziale verändert

Die Corina-Krise hat vieles verändert und wird weitere Veränderungen nach sich ziehen. Zumal sie der Digitalisierung einen wahren Entwicklungsschub und neue, profitträchtige Geschäftsfelder bescherte. Die Aktien der Programme für Videokonferenzen und Webinare sind zu einem wahren Renner geworden. Immer mehr Unternehmen, staatliche wie kirchliche Institutionen und Universitäten verlegen ihr Tun und Handeln ins Internet und treiben damit Nachfrage und Profite in die Höhe. Nicht alles davon wird bleiben, doch die Investitionen müssen sich natürlich auszahlen und die Anbieter werden keine Mühe scheuen, den Nutzern neue Updates aufzuzwingen, wie man das von Microsoft seit langem kennt.


[angelegt/ aktualisiert am  19.05.2020]

 
 
 

Mein Tag der Befreiuung

Als die faschistische Militärführung am 8. Mai 1945 kapitulierte saß ich irgendwo zwischen Dresden und Berlin auf einem Leiterwagen, der übervoll mit unserem Hab und Gut beladen war und von meiner Mutter und mir gezogen wurde. Es war ein rundes Vierteljahr vor meinem fünften Geburtstag und vor uns lagen etwa 150 Kilometer, die wir überwiegend zu Fuß gehen mussten. Es ging sehr langsam, weil ich erst vor vier Wochen an Diphterie erkrankte und , schwach wie ich war, ständig Pausen einlegen musste.  Nur manchmal konnten wir einige Kilometer in einem völlig überfüllten Güterwagen mitfahren und wenn wir Glück hatten, in einem Bunker übernachten. Ich weiß natürlich nicht mehr, wie viele Tage wir unterwegs waren, doch sie waren anstrengend und beängstigend. Einmal hatte sich eine Kuh in einer Panzersperre verfangen, sie wurde von Flüchtlingen fast noch lebendig mit Messern und Beilen zerteilt.  Manchmal donnerten Tiefflieger über unseren Flüchtlingstreck, Panzerketten ratterten und fast ohne Unterlass blitzten am Horizont die Mündungsfeuer der Artillerie. Die Front war zunächst hinter und dann plötzlich vor uns – sie hatte uns einfach überrollt. Irgendwann verbreitete sich unter den Flüchtlingen die Nachricht, dass sich Hitler das Leben genommen habe, aber der Krieg ging weiter. Da wo Berlin lag, donnerten immer noch die Geschütze.

 

Die Stadt erreichten wir von Süden her, wo es noch wenig zerbombte Häuser gab. Das änderte sich von Stunde zu Stunde und bald gab es nur noch Ruinen und Schuttberge, durch die eine schmale Fahrspur freigeschoben war. Uns kamen von Rotarmisten bewachte Soldaten entgegen, viele Verwundete – darunter auch Minderjährige mit zerlumpten, und für sie zu großen Uniformen. Es herrschte eine gespenstische Ruhe, die nur manchmal von einstürzenden Hausresten unterbrochen wurde. Häufig kamen uns zweirädrige Karren entgegen, die mit schwarzen Planen überdeckte Leichen transportierten.

Endlich waren wir dann in Kreuzberg und fieberten dem Moment entgegen, an dem wir die Eylauer Straße erreichten. Noch eine Ecke und noch eine und dann waren wir da. Etwa ein Drittel der Häuser waren ganz oder teilweise zerbombt. Welche Freude, als wir erkannten, dass zwar von unserem Nebenhaus nicht mehr als ein Schutthaufen geblieben war, unser Haus aber fast unbeschädigt schien. Zwar waren sämtliche Fenster zerstört und im Vorderhaus war das Dach eingestürzt, doch wir waren überaus glücklich. Dass wir inzwischen befreit waren, spielte so gut wie keine Rolle, wichtig war nur überlebt zu haben und eine halbwegs heile Wohnung zu besitzen.

 

Schon nach einigen Tagen kamen die ersten Russen und mit ihnen eine gewaltige Gulaschkanone, die sie auf unserem Hof platzierten und einmal am Tag warme Suppe ausschenkten. Natürlich war das für uns Kinder eine willkommene Sensation, nicht aber für die Erwachsenen. Am wenigsten für meine Mutter, die in Sachsen nur durch den beherzten Widerstand meines Cousins Seppel einer Vergewaltigung durch einen sowjetischen Soldaten entkommen war. Ich hatte das zwar miterlebt, nicht aber begriffen worum es eigentlich ging. „Unsere Russen“ in der Eylauer Straße fand ich jedoch überaus nett und das nicht nur wegen der warmen Suppe. Sie liebten Kinder, spielten mit uns, brachten mir die ersten russischen Worte bei und konnten wunderbare, melancholische Lieder singen. Als dann unsere „Befreier“ in ihren russischen Sektor abzogen, wurde es still in unserer Straße und ich erlebte das erste Mal was Hunger ist.

 

Ständig war ich mit meiner Mutter unterwegs, weil es irgendwo für die Lebensmittelkarten etwas zu essen geben sollte, oder um in den Ruinen nach Brennholz oder Pappe zu suchen, mit der wir unsere glaslosen Fenster abdichten konnten. Nach alledem was ich auf und nach unserer Flucht erlebt hatte, war ich keineswegs ängstlich geworden, sondern – wie meine Mutter später stets betonte – außerordentlich mutig gewesen. Mit einer Ausnahme: Es gab so gut wie keinen Straßenverkehr, so dass wir es völlig normal fanden, auch große Straßenkreuzungen diagonal zu überqueren. Ein Polizist fand das jedoch überhaupt nicht normal und fauchte meine Mutter an, dass dies verboten sei. Auch meine Mutter war nie ängstlich, und begann deshalb mit dem übereifrigen Beamten einen Streit über die Sinnhaftigkeit von Verkehrsregeln, wo es gar keinen Verkehr gibt. Schließlich drohte er meine Mutter festzunehmen und ins Gefängnis zu bringen. Es war das erste Mal seit unserer Flucht, dass ich wirklich Angst bekam. Nach all den Ängsten, die ich in den Letzten Wochen durchgestanden hatte, ergriff mich die Vorstellung, dass ich von meiner Mutter getrennt würde, die nackte Panik und pinkelte mir in die Hose.

 

Dem Tag der Befreiung folgten nicht nur der Hunger, sondern auch Ruhr, Typhus und Cholera, so dass die ausgemergelten Bewohner Berlins wie die Fliegen starben. Mich erwischte sehr schnell die Ruhr und die stündliche Scheißerei, die meine Mutter zwang, mehrmals am Tag die Bettwäsche zu waschen und so gut es eben ging, alles zu desinfizieren. Die Mutter meines Freundes Friedhelm nahm das nicht so genau, weshalb bei ihm nach der Ruhr der Typhus folgte, der natürlich auch mich ansteckte. Wir kamen beide in eine Seuchenstation, die früher einmal als Schulturnhalle diente und nun dicht an dicht mit auf dem Boden liegenden Matratzen belegt war. Ständig kamen neue Patienten dazu und Tote wurden rausgetragen. Meine Freund Friedhelm, der neben meiner Matratze lag, starb nach wenigen Tagen. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte ich nicht mehr laufen und musste mit einem Kinderwagen transportiert werden. Schien die Sonne, stellte mich meine Mutter vor die Haustür, wo ich dann meisten eingeschlafen bin. Es hat Wochen gedauert, ehe ich wieder laufen konnte.

 

 6.5.20  


[angelegt/ aktualisiert am  06.05.2020]