Die neue Armutslüge

 

Armut hat in der neoliberalen Ideologie keinen Platz, weil es in dieser besten aller Welten angeblich umso gerechter zugeht, je freier sich die Marktkräfte entfalten dürfen. Wenn es dennoch Armut gibt, liegt die Schuld beim Sozialstaat. Er hält die Arbeitslosen von ihrem Glück ab, indem er ihnen die Arbeitslosigkeit bezahlt und er produziert Schmarotzertum, wie uns zahlreiche Kampagnen, wie etwa die um den armen Florida-Rolf,  glauben machen sollen. Nun wurde die Öffentlichkeit  in den letzten Monaten durch verschiedene Untersuchungen alarmiert, mit denen plötzlich sichtbar wurde, wie viele Menschen in diesem Lande trotz Arbeit arm sind.

Kein Wunder, denn der Anteil der Brutto-Löhne und Gehälter am Volkseinkommen ist seit 1991 von 69,3 Prozent auf 58,9 Prozent im vergangenen Jahr zurückgegangen[1]. Dagegen stiegen die Brutto-Gewinne von 29 auf 36 Prozent, so dass sich die Schere der ungerechten Verteilung weiter öffnete. Diese Verschiebung zwischen Gewinn- und Arbeitseinkommen ist einmalig in der bundesdeutschen Geschichte und steht sogar im Gegensatz zu den anderen Industrieländern. Während die Reallöhne in Deutschland zwischen 1995 und 2004 um 0,9 Prozent sanken, stiegen sie in der EU im Durchschnitt um 7,4 Prozent. Selbst in den neoliberal durchgestylten USA stieg die Kaufkraft der Löhne im genannten Zeitraum um 15,6 Prozent.

Michael Sauga, des Nothelfer des neoliberalen Mythos vom arm machenden Sozialstaat, schreibt dagegen: „Je weniger die Bürger mit der Finanzierung des hiesigen Wohlfahrtsstaates zu tun hatten, desto günstiger entwickelte sich ihr Haushaltsbudget“[2]. Sein statistischer Trick ist, dass er die Steigerung der Selbstständigeneinkommen und die negative Lohnentwicklung mit der Steuer- und Abgabenentlastung in Beziehung setzt und dann den Schluss zieht: Je weniger die Bürger mit der Finanzierung des hiesigen Wohlfahrtsstaates zu tun hatten, desto günstiger entwickelte sich ihr Haushaltsbudget.“[3] Aus der statistisch richtigen Beobachtung wird ein logisch falscher Schluss gezogen. Ursache der unterschiedlichen Einkommensentwicklung ist nämlich nicht die unterschiedliche Steuer- und Abgabenquote, sondern die krass unterschiedliche Entwicklung der Bruttoeinkommen. Dass die Selbständigen weniger Steuern bezahlen, ist zwar richtig und hängt mit den Steuergeschenken der letzten 15 Jahre zusammen, erklärt aber in keiner Weise die Zunahme der Menschen, die trotz Vollzeitarbeit arm sind. Die über 2,5 Millionen Vollzeitbeschäftigten mit Einkommen unterhalb des Existenzminimums sind nämlich nicht arm, weil sie zu viele Sozialabgaben oder Steuern abführen müssen, sondern weil bereits ihre Bruttoeinkommen zu niedrig sind. Sauga vergleicht Äpfel mit Birnen und blendet die wirkliche Einkommensverteilung aus, um die Benachteiligung der abhängig Beschäftigten dem Sozialstaat in die Schuhe zu schieben. Schon ein oberflächlicher Blick in die Statistik widerlegt diese Armutslüge. Während nämlich die Brutto-Einkommen der abhängig Beschäftigten seit 1991 um 4,4 Prozentpunkte gesunken sind, haben die Sozialbeiträge der Arbeitnehmer nur um 0,3 Prozent zugelegt.[4]  An der Steigerung der Sozialabgaben kann es nach Adam Riese also kaum gelegen haben, dass immer mehr Menschen trotz Arbeit arm sind, zumal gleichzeitig die Quote der Lohnsteuern gesunken ist. Unterm Strich sind die Netto-Einkommen der Arbeitnehmer etwa genau so stark gesunken wie die die Brutto-Einkommen, so dass der Aufschwung an den Arbeitnehmern nicht deshalb vorbeigeht, weil sie der Sozialstaat schröpft, sondern die Profitmaximierung.

Michael Sauga saugt seinen Honig aus einer unzulässigen Lesart statistischer Durchschnittsgrößen, was freilich nur den kleineren Teil seiner Manipulation offen legt. Man darf bei der Analyse der Einkommensverteilung nämlich nicht beim Durchschnitt stehen bleiben, sondern muss die Einkommenspyramide in Schichten einteilen, um dem wahren Ausmaß der Armut und des unverschämt wachsenden Reichtums auf die Spur zu kommen. Nimmt man zum Beispiel die Einkommensentwicklung der Spitzenmanager, so verdiente ein Spitzenmanager vor acht Jahren etwa 30- bis 50 mal so viel wie seine Mitarbeiter. Heute ist dieser Faktor auf etwa 400 gestiegen[5]. Nicht sehr viel anders sieht es für die Vermögenden aus, für deren Rendite diese Manager zu sorgen haben und die sich vor allem aus unbezahlter Arbeit speisen. Und auch hier gibt es gravierende Unterschiede. Das Zurückbleiben der Löhne und Gehälter hinter der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung betrifft vor allem das untere Drittel der Beschäftigten, überwiegend Leiharbeiter und andere prekär Beschäftigte. Ihre persönlichen Einkommensverluste sind ungleich größer, als es die Durchschnittszahlen verraten. Aussagefähiger ist in dieser Frage die so genannte Lohndrift, das heißt der Unterschied zwischen den Tariferhöhungen und den tatsächlich gezahlten  Löhnen. Immer weniger abhängig Beschäftigte kommen in den vollen Genuss der Lohnerhöhungen, weil außertarifliche Leistungen gestrichen werden oder überhaupt kein Tariflohn gezahlt wird. So gab es im vergangenen Jahr zwar eine Erhöhung der Tariflöhne um 1,5 Prozent, aber in Wirklichkeit stiegen die Arbeitseinkommen lediglich um 0,7 Prozent.

Man kann recht unterschiedliche statistische Größen heranziehen, um den Absturz der Löhne und die gleichzeitige Explosion der Gewinn- und Vermögenseinkommen sichtbar zu machen, aber nirgendwo wird sich der Nachweis führen lassen, dass daran die Sozialabgaben schuld sind. Die Behauptung ist böswillig konstruiert und baut auf gutgläubige Leser, beziehungsweise auf den bösartigen Alltagsverstand, der seinem arbeitslosen Nachbarn ohnehin mehr misstraut als seinem Ausbeuter. Folgerichtig schürt Sauga den dumpfen Sozialneid und lenkt ihn mit abenteuerlichen Argumenten auf Arbeitslose und Rentner, in dem er zum Beispiel schreibt: Kein Zweifel, die neunziger Jahre werden einst als das goldene Jahrzehnt der Pensionäre in die Annalen des deutschen Staatsdienstes eingehen. Selbst die Arbeitslosen sind lange Zeit im deutschen Sozialstaat gar nicht schlecht gefahren..“[6]

Harald Werner 15. Oktober 2007

 

 


[1] Claus Schäfer, „Unverdrossene ´Lebenslügen-Politik´- Zur Entwicklung der Einkommensverteilung, WSI-Mitteilungen 11/2006

[2] SPIEGEL ONLINE - 09. Oktober 2007

[3] ebenda

[4] Claus Schäfer, a.a.O.

[5] „Die maßlosen Manager“ Stern Nr. 42 vom 11.10.07, S.38

[6] SPIEGEL a.a.O.


[angelegt/ aktualisiert am  15.10.2007]